Glenn Patterson: Hausnummer 5

Es gibt sie noch, die ruhigen, unspektakulären, intelligent geschriebe-nen Romane, die sich einem beim Lesen beigesellen wie ein wohl vertrauter alter Freund. "Hausnummer 5" ist so einer, beschreibt sein Autor darin doch die Geschichte einer Straße in Belfast über den Zeitraum von 45 Jahren aus der Sicht der wechselnden Bewohner eines der Häuser, eben jener Nummer 5.
Den Anfang macht das Ehepaar Falloon, das das Haus kurz nach Fertigstellung bezieht. So ganz nebenbei werden die Nachbarn vorgestellt, die den Leser während seiner Lektüre durch die Jahrzehnte begleiten werden. Da ist die kindlich naive Ivy Moore, zu Beginn der Geschichte gerade mal 17, spindeldürr und winzig, immer neugierig und mit der Erziehung ihres Sohnes George permanent überfordert scheinend. Dann gibt es da das Ehepaar Robertson, dessen älterer Sohn nach Amerika ausgewandert ist und dessen jüngerer Sohn Graham im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen soll. Und da ist Andy Hideg mit seiner Frau Jill, ein Ungar, der seine Heimat nach der Niederschlagung des "ungarischen Frühlings" verlassen hat. Stella Falloon wird hier ihre Tochter Penny zur Welt bringen, ihr Mann Harry wird an einem rätselhaften Virus erkranken, und die drei Falloons werden schließlich aus der Straße wegziehen. Das Warum bleibt zunächst im Dunkeln, doch wird das Geheimnis am Ende des Buches gelüftet.
Die nächsten Bewohner des Hauses sind Margaret und Rodney Mc-Govern, er ein Eisenbahner, der in dem nicht benutzten Zimmer des Hauses eine Weltkarte an die Wand zeichnet. Beschrieben wird das jährlich wiederkehrende Ritual der Silvesterfeier bei den Hidegs, die Diskussionen der beiden Männer, die sich im Laufe der Zeit zunehmend politisieren. Schließlich ziehen auch die McGoverns, die sich in der Straße nie richtig heimisch gefühlt haben, weg.
Als nächste Bewohner zieht die chinesische Einwandererfamilie Tan in das Haus mit der Nummer 5. Wir erleben die Pubertät des Sohnes aus dessen Sicht, werden Zeugen der Fremdenfeindlichkeit, die sich gerade gegenüber den Kindern in einer grausamen Weise offenbart. Doch wir erfahren auch von der seltsamen Freundschaft des jungen Tan mit dem verwahrlosten Nachbarjungen, die dem Jungen die Kraft gibt, sich als Fremder in einer fremden Umwelt zu behaupten. Und hier gerät wiederum Graham Robertson in den Blickpunkt, der nun als erwachsener Außenseiter zum Ziel der Rachefantasien der beiden Jugendlichen wird. Nebenbei verschärfen sich die religiös-politischen Spannungen in der Straße wie in ganz Nordirland, was schließlich seinen Höhepunkt in der Ermordung Andy Hidegs findet, die parallel zum Wegzug der Familie Tan geschieht.
Nächste Bewohner des Hauses sind das Ehepaar Catriona und Steve Eliot mit ihren Kindern Patricia und Martin. Während der Zeit, in der sie in Nummer 5 wohnen, durchleben die Kinder und Steve eine Art religiöse Erweckung. Schließlich kommt es zu einem Skandal wegen einer Ausstellung als obszön empfundener Bilder in der Kunsthalle, in der Catriona arbeitet. Kurz darauf ziehen auch die Eliots weg, und mit Toni und Mel zieht ein unverheiratetes Pärchen als letzte Bewohner in das Haus mit der Nummer 5 ein. Beide arbeiten als selbstständige Reinigungsunternehmer, indem sie landauf, landab die Teppiche der Nachtclubs von ihrem Schmutz befreien. Die Beziehung der beiden ist vage und bleibt es auch während des Rests des Romans, bis sie zum Schluss einen gemeinsamen Urlaub in Budapest verbringen. Doch bis dahin soll sich noch das Dunkel des überstürzten Auszugs der Falloons lichten, als Penny Falloon, die mittlerweile in Australien lebt, der Stätte ihrer Geburt einen Besuch abstattet. Und es bleibt Ivy Moore als einer der letzten verbliebenen Ursprungsbewohnerinnen der Straße vorbehalten, dem Leser die Details zu offenbaren.
"Hausnummer 5" ist – wie schon gesagt – ein ruhiger Roman. Aber er ist ebenso ein fesselnder Roman, der den Leser mit seinen leisen Tönen unmerklich gefangen nimmt und ihn bis zum Schluss nicht mehr loslässt. Und nebenbei erfährt dieser etwas über die Geschichte Nordirlands der letzten Jahrzehnte: aber nicht das trockene Faktenmaterial eines Geschichtsbuches wird präsentiert, sondern vielmehr der Niederschlag von Geschichte im "gewöhnlichen" Leben, von der Zuspitzung bis zur teilweisen Entspannung des "Nordirland-Problems", von der religiös-bigotten Prüderie der 50er und 60er Jahre bis hin zur sexuellen Liberalisierung. Und der Kunstgriff, dass dies auf der – unterschiedlichen – Reflexionsebene mehrerer Hauptakteure geschieht, verleiht Glenn Pattersons Roman "Hausnummer 5" sein herausragendes Prädikat als unaufdringliches Kaleidoskop nordirischer Gegenwartsgeschichte.

Glenn Patterson: Hausnummer 5. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. 378 Seiten. Köln 2004. Verlag Kiepenhauer & Witsch. € 19,90