Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten

In seinem neuen Buch beschäftigt sich Mario Vargas Llosa, der 2010 den Literatur-Nobelpreis erhalten hatte, mit einem ungewöhnlichen Thema. Er erzählt die Geschichte von Roger Casement, einem Mann, den einige – wenn überhaupt – vielleicht in Verbindung mit dem gescheiterten Osteraufstand der Iren im Jahr 1916 bringen.
In „Der Traum des Kelten“ zeigt Llosa, dass der gebürtige Ire noch sehr viel mehr Facetten hatte und dass es sich lohnt, einen genaueren Blick auf ihn und sein Leben zu werfen.

Am Beginn des Buches befinden wir uns in der Zelle eines Londoner Gefängnisses. Es ist der Sommer des Jahres 1916 und Roger Casement ist gerade in Old Bailey wegen Hochverrats zum Tode verurteilt worden. Er bzw. sein Anwalt hat ein Gnadengesuch eingereicht und die englische Regierung muss nun darüber befinden, ob er an den Galgen kommt oder nicht.
Dieser ‚Besuch‘ in seiner Zelle wird zum Gerüst des Buches und wiederholt sich bis zum Schluss in mehrfach abgewandelter Form. Um es vorwegzunehmen: das Gesuch wird am Ende abgelehnt, und ‚Roger‘, wie ihn Vargas Llosa immer wieder nennt, wird am 2. August 1916 am Galgen sterben.
Wer war dieser Roger Casement, der sich nach seiner Erhebung in den Adelsstand sogar ‚Sir‘ Roger Casement nennen durfte?
Er wurde 1864 in der irischen Hauptstadt Dublin geboren. Die geliebte (katholische) Mutter und der strenge (protestantische) Vater starben früh. So wuchs er bei seinem Großonkel in Nordirland auf, wo er sich allerdings nie wohlfühlte.
Schon früh galt seine Begeisterung den Seefahrer- und Abenteuerbüchern, die ihn in eine ferne Welt entführten, die er später unbedingt kennen lernen wollte.
Seine erste Anstellung bekam er mit 16 Jahren in einer Handelskompanie in Liverpool. Dort wohnten auch seine Onkel und seine ihm bis zu seinem Tod sehr nahestehende Cousine Gertrud, genannt Gee. Sehr schnell hatte er sich emporgearbeitet und eine besondere Beziehung zu Afrika entwickelt. Mit 20 Jahren bereiste er zum ersten Mal diesen Kontinent.
Er nahm an verschiedenen Expeditionen bekannter Entdecker wie Henry Morton Stanley teil, musste jedoch bald feststellen, dass seine Vorstellung, man könne den Einheimischen das Christentum und die Zivilisation bringen, allzu naiv und idealistisch war. Stattdessen ging es um knallharte politische und wirtschaftliche Interessen, die Menschen spielten keine Rolle in diesem kolonialistischen Wettlauf der europäischen Großmächte.

Der erste große Schwerpunkt des Buches von Vargas Llosa behandelt eine Reise, die Roger als britischer Konsul im Jahr 1903 in die damalige belgische Kolonie Kongo unternahm. Sein Ziel war es, in den Urwald zu gelangen, um dort mit eigenen Augen zu sehen, unter welchen Bedingungen die Einheimischen in den Kautschuk-Plantagen der jeweiligen Unternehmen arbeiteten. Am Ende fiel sein Urteil verheerend aus: viele Arbeiter waren auf dem Hinterteil wie Vieh gebrandmarkt, ihre Rücken waren übersät von Schlägen mit der berüchtigten Nilpferdpeitsche, die Aufseher und Angestellten der Unternehmen erwiesen sich als grausame und gefühllose Verbrecher, deren Verhalten durch nichts anderes als blanke Habgier geprägt war.
Die Veröffentlichung seines Berichts in London sorgte für eine Sensation. Er wurde bekannt, ja berühmt, und sollte sogar eine Auszeichnung durch den englischen König erhalten. Dieser Zeremonie blieb er allerdings fern. Im Kongo nämlich war ihm klar geworden, dass es Kolonialismus und Unterdrückung nicht nur in Afrika, sondern auch in Europa gibt. Er war im Kongo zum irischen Nationalisten geworden und hatte sich vorgenommen, zukünftig für die Befreiung Irlands und damit gegen die britische Krone zu kämpfen. Sein zunehmender Radikalismus in dieser Frage sollte ihn schließlich im Sommer 1916 das Leben kosten.

Doch bevor er sich Irland zuwenden konnte, musste er 1910 eine zweite Mission erfüllen. Nicht nur im Kongo wurden die Einheimischen bei der Gewinnung von Kautschuk grausam dezimiert. Auch in Südamerika, namentlich in Peru, trieb eine britische Gesellschaft ihr Unwesen. Deren Machenschaften sollte Roger vor Ort untersuchen und dokumentieren. Das Ergebnis entsprach dem, was er schon im Kongo erlebt hatte: skrupellose Ausbeutung, menschenunwürdige Behandlung, gnadenloses Personal.
Auch dies berichtete er nach London. Als sich an diesen Methoden und Verhältnissen nichts änderte, fuhr Roger ein zweites Mal nach Südamerika. Er dokumentierte all dies penibel und hatte auf der Rückreise sogar ein längeres Gespräch mit dem amerikanischen Präsidenten Taft. Die Veröffentlichung seines Berichts in London schlug dann ein wie eine Bombe und hatte unmittelbare Wirkungen: das Kautschuk-Imperium wurde zerschlagen, der Abbau des ‚schwarzen Goldes‘ in Peru wurde gestoppt.

Trotz seines durch die vielen beschwerlichen Reisen angegriffenen Gesundheitszustandes wollte sich Roger nun Irland zuwenden. Der dritte Teil des Buches handelt von diesem Engagement. Er schied aus dem diplomatischen Dienst in England aus und zog nach Dublin. Er besuchte den Westen Irlands, Galway und Connemara, wo das alte Gälisch noch lebendig war, und stürzte sich ins politische Getümmel.
Grob gesagt, gab es damals zwei politische Richtungen in Irland. Die einen, die Mehrheit, wollten eine sog. ‚Homerule‘-Regelung. Dies hätte den Verbleib Irlands bei Großbritannien mit einer größeren Eigenständigkeit bedeutet. Die anderen, eher eine Minderheit, wollten die völlige politische Unabhängigkeit, wenn nötig auch mit Hilfe gewaltsamer Aktionen. Roger schloss sich der zweiten Richtung an. Nach dem Motto ‚Der Feind meines Feindes ist mein Freund‘ hatte er folgenden Plan. Europa befand sich mittlerweile im Ersten Weltkrieg. Deutschland war der Hauptgegner Englands. Rogers Plan bestand darin, mit Hilfe der deutschen Obersten Heeresleitung englische Stellung in Irland anzugreifen. Gleichzeitig sollte in Irland ein Aufstand angezettelt werden, den die Deutschen mit Waffen unterstützen sollten. Die Iren unter den englischen Kriegsgefangenen sollten eine eigene Brigade bilden und den irischen Freiheitskampf militärisch unterstützen. In Berlin verhandelte er darüber mit den deutschen Militärs, die ihm auch – allerdings eher vage – Zusagen machten.
Der Plan ging jedoch gründlich schief: die irische Brigade fand kaum Zulauf, die Deutschen hatten nie vor, England in Irland zu attackieren, der Aufstand in Dublin fand zwar statt, scheiterte allerdings blutig, die schnell zum Tode verurteilten Anführer hatten nur ein Ziel erreicht: sie gingen als Märtyrer in die irische Geschichte ein. Roger selbst begleitete in einem deutschen U-Boot das Schiff, das die Waffen nach Irland bringen sollte. Auch diese Aktion scheiterte, er wurde verhaftet, und der Rest ist bekannt.

Vargas Llosas Buch zeigt uns einen widersprüchlichen, gleichwohl interessanten Menschen. Zu all seinen Facetten gehörte z.B. auch seine Homosexualität. Es ist auch ein Merkmal der Zeit, dass er dies in der Öffentlichkeit verbergen musste. In seinen Tagebüchern hielt er alle Erlebnisse allerdings minutiös fest. Vargas Llosa vermutet, dass diese Schilderungen eher seine Wunschträume dokumentieren als dass sie tatsächliche Ereignisse widerspiegeln. Als diese Tagebücher während seiner Haftzeit veröffentlicht wurden, hat dies sicherlich die Ablehnung des Gnadenersuchs noch befördert.
Casements Haltung gegenüber dem Deutschen Reich erweist sich als naiv. Viele Dinge schätzte er politisch falsch ein. Er wollte Deutschland instrumentalisieren, und wurde doch selbst ein Opfer der ‚großen’ Politik. Deutschland hatte am Freiheitskampf der Iren kein besonderes Interesse.
Llosa spart aber auch nicht an Kritik bezüglich der Aufständischen in Dublin. Insbesondere Patrick Pearse und Joseph Plunkett stellt er als mystische Romantiker dar, die im christlichen Sinn als Märtyer ein Zeichen setzen wollten.

Vargas Llosas erzählt insgesamt eher dokumentarisch. Seine Erzählweise ist zwar akribisch und detailreich, er hat viel recherchiert, das spürt man, allerdings verzichtet er auf eine ausschweifende Metaphorik. Die Vielfältigkeit des Menschen ist es, die ihn interessiert und für die die Person Roger Casement beispielhaft steht. Schon das Motto des Buches legt diese Spur:

„Jeder von uns ist, sukzessive, nicht einer
sondern viele. Und diese Persönlichkeiten,
die eine aus der anderen hervorgehen,
zeigen untereinander die sonderbarsten
und verblüffendsten Kontraste.“

Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp Verlag Berlin 2011. 24,90 €